Mein erstes Seminar
Ich kann die Skepsis durchaus nachvollziehen, mit der die meisten Menschen dem Systemischen Stellen erstmalig begegnen, denn ich kenne sie von mir selbst sehr gut. Ich hatte vor meiner ersten
Seminarteilnahme zwar bereits einiges darüber gelesen, fand es sehr interessant, aber so richtig glaubwürdig erschien mir die Sache nicht. Meine Neugier war aber geweckt, ich wollte mir selbst
ein Bild davon verschaffen und war sehr gespannt darauf. Bei den ersten zwei oder drei Aufstellungen wurde ich nicht als Stellvertreter gewählt und war somit bloss Zuschauer. Als solcher habe ich
das Geschehen zwar gespannt, und teils auch erstaunt, verfolgt, mich dabei aber immer wieder gefragt, wie die Stellvertreter dazu kamen, sich in der einen oder andern Art zu verhalten oder zu
äussern. Natürlich wusste ich rein theoretisch um das sogenannte 'Wissende Feld' - ich hatte ja darüber gelesen und es wurde uns zu Beginn des Seminars auch erläutert, aber der Verdacht, dass
'die alle irgendwie bloss Theater spielen', war mir dennoch sofort präsent und hielt sich hartnäckig beim Verfolgen dieser 'Inszenierungen'. Allerdings war es mir ein Rätsel, wie die
Stellvertreter an die passenden Drehbücher gekommen wären und wer sie so gut und so schnell instruiert haben könnte...(?) Ja, dies zumindest musste ich eingestehen, es war sehr erstaunlich. Aber
bei einem guten Zauberer ist man auch oftmals verblüfft, wenn man den Trick nicht durchschaut, was ja noch nicht bedeutet, dass dieser tatsächlich zaubern könnte... Ich war nun also beeindruckt,
aber meine Fragezeichen waren nicht wirklich kleiner geworden. Dann bekam ich meine erste Rolle als Stellvertreter angeboten, die ich natürlich gespannt annahm. Zunächst zweifelte ich, ob das bei
mir nun wohl ebenfalls 'funktionieren' würde, und als ich Veränderungen in meinem körperlichen Befinden wahrnahm, hinterfragte ich diese und überlegte, ob ich mir das nun eventuell bloss
einbilden würde. In der Aufstellung war bereits einiges geschehen, als sich eine andere Stellvertreterin vor mich hinstellte und mir direkt in die Augen sah. Die Aufstellungsleiterin gab mir
schliesslich einen Satz vor, den ich zu dieser Frau hätte sagen sollen. Ich wollte ihr diesen Gefallen tun - klar, warum auch nicht. Aber zu meinem grossen Erstaunen brachte ich ihn nicht über
meine Lippen. Als hätte ich einen riesigen Kloss im Hals, war ich beim besten Willen nicht fähig, diesen einen Satz auszusprechen...
Diese Erfahrung beseitigte meine Zweifel von der einen auf die andere Minute.
Inzwischen, also nach unzähligen weiteren Rollen als Stellvertreter, dem Abschluss der Systemischen Ausbildung, zahlreichen eigenen Aufstellungen, dem Studium der Fachliteratur und der Leitung von mittlerweile mehreren Hundert Aufstellungen, hat der nüchterne Verstand für manche Phänomene zwar noch immer keine für ihn fassbare Erklärung gefunden, jedoch durch die Erfahrungen seine Begrenzungen erkannt, wodurch er Grösseres wirken lassen kann. So ist mir inzwischen sehr bewusst, dass wir, um die wirklich wichtigen Dinge verstehen zu können, die Ebene des Verstandes verlassen müssen.
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